Leonhard Göhler: MÄRCHEN FÜR DEN FEED
In Leonhard Göhlers aktueller Serie auf ARTCLUB findet sich ein winziges, fast beiläufiges Detail: ein schwebendes rotes Herz, wie man es von Bildschirmen kennt, nicht von Leinwänden. Es schwebt neben einem Handy wie ein sichtbar gewordener Reflex. Ein Blick genügt, und das Gemälde handelt nicht mehr „von“ einem Paar in einem Raum, sondern von uns allen – davon, wie Aufmerksamkeit heute funktioniert, wie Zuneigung gemessen wird, wie Intimität ständig durch das Bedürfnis, gesehen zu werden, unterbrochen wird.
Göhlers Gemälde sind auf den ersten Blick verständlich. Leuchtende, flächige Farben. Klare Konturen. Figuren, die wie aus einem Kinderbuch, einem Cartoon oder einem halb vergessenen Meme entsprungen wirken. Doch je länger man sie betrachtet, desto mehr entpuppt sich ihre Einfachheit als Falle. Der Humor ist echt – diese Bilder bringen einen oft zunächst zum Schmunzeln –, doch der Nachgeschmack ist subtiler: eine seltsame Zärtlichkeit, ein leises Unbehagen, das Gefühl, dass etwas Vertrautes ein wenig verschoben wurde.
Wir veröffentlichen diesen Text selbst, also seien wir ehrlich: Mit dieser Online-Auswahl stellen wir Leonhard Göhler als neuen Künstler auf ARTCLUB vor und bringen sein zusammenhängendes Werk in einen Dialog mit der heutigen Lebensrealität. Nicht durch große Slogans oder schwerfällige Theorien, sondern durch Szenen, die wie Momentaufnahmen wirken und sich schwer einordnen lassen: häusliche Nähe, subtile Machtverhältnisse, Fantasiefiguren als emotionale Stellvertreter und die allgegenwärtige Präsenz des „Feeds“ als unsichtbarer Dritter im Raum.
EINE SERIE, DIE SICH WIE EINE SEQUENZ LESEN
Die aktuell auf ARTCLUB online verfügbaren Werke entfalten sich eher wie eine lose Abfolge von Kapiteln als wie eine einheitliche Aussage. Man bewegt sich von einer Szene zur nächsten wie durch eine Zeitleiste: unterschiedliche Momente, ähnliche Spannungen.
Ein Gemälde zeigt eine Gestalt in rotem Trainingsanzug, die sich über einen Schlafenden beugt – ein Bild, das Fürsorge, Bedürfnis oder etwas Komplexeres deuten kann. Die Nähe ist unbestreitbar, ebenso die Asymmetrie: einer wach, einer zurückgezogen; einer greift nach etwas, einer ruht. Der Raum ist auf das Wesentliche reduziert, der rote Hintergrund verstärkt die emotionale Spannung wie ein Bühnenlicht.
Ein anderes Bild wirkt fast schon komisch aktuell: Ein Paar steht nebeneinander, doch der Blick richtet sich auf ein Handy und das schwebende Herzsymbol. Der Abstand zwischen den beiden Körpern ist gering, aber der Unterschied in ihrer Aufmerksamkeit riesig. Es ist komisch, weil es wahr ist – und unangenehm, weil es wahr ist.
Dann führt Göhler Märchenfiguren ein, nicht aus Nostalgie, sondern als Sprache der Gegenwart. Pinocchio erscheint nicht als moralische Lektion, sondern als Figur, gefangen in unseren gegenwärtigen Ritualen der Selbstdarstellung: ins Bild gehoben, posiert und der Welt auf einem Selfie-Stick entgegengestreckt. Die alte Geschichte vom Lügen wandelt sich: Es geht darum, was es bedeutet, sich selbst zu präsentieren, eine Version von „Realität“ zu inszenieren, mit der ständigen Möglichkeit der Bewertung zu leben.
An anderer Stelle erweitert sich das Ensemble: Ein grüner Drache, gezeichnet mit der unkomplizierten Kühnheit einer Kinderzeichnung – und doch platziert wie ein Symbol, das man deuten soll. Eine Meerjungfrau begegnet einem Mann am Rande eines leuchtend blauen Feldes, eine Szene, die wie ein Mythos auf eine alltägliche Beziehung trifft. Eine Bauarbeiterfigur – sofort als popkulturelles Archetyp erkennbar – teilt sich den Raum mit einem menschlichen Begleiter, als wären „Bauen“ und „Reparieren“ zu emotionalen Rollen geworden, anstatt nur Berufe zu sein.
Selbst wenn Göhlers Anspielungen spielerisch sind, wirken sie nie wie simple Witze. Sie funktionieren wie Abkürzungen zum kollektiven Gedächtnis. Jeder erkennt die Figuren. Diese Wiedererkennung ist der Ausgangspunkt. Was dann geschieht – was man in die Szene hineinprojiziert, was man beim Betrachten an sich selbst bemerkt – ist der Punkt, an dem die Gemälde an Tiefe gewinnen.
DER LOOK: KLARE OBERFLÄCHEN, KNALLIGE FARBEN, LEISE SPANNUNG
Göhlers Bildsprache ist direkt. Er versucht nicht, mit Komplexität zu überwältigen. Er tut etwas Schwierigeres: Gemälde zu schaffen, die unmittelbar zugänglich sind, ohne oberflächlich zu wirken.
Die Kompositionen bestehen oft aus großen, kraftvollen Farbflächen. Die Figuren sind vereinfacht, aber nicht nachlässig. Ihre Posen vermitteln emotionale Gefühle: Sie lehnen sich vor, wenden sich ab, heben, halten, verharren. Die Hintergründe sind auf das Notwendigste reduziert – mal eine Wand, mal eine Landschaft, die wie ein Fenster eingerahmt ist, mal fast nichts. Diese Reduktion schafft Klarheit, und Klarheit erzeugt Spannung. Durch weniger Ablenkung gewinnt jede Geste an Bedeutung.
Die Werke scheinen zu verstehen, wie wir heute sehen. Bildschirme haben uns darauf trainiert, schnell zu scannen, Bilder rasch zu entschlüsseln. Göhler begegnet dieser Geschwindigkeit – und verlangsamt sie dann. Ein Gemälde mag auf den ersten Blick leicht zu erfassen sein, doch es entzieht sich einer eindeutigen Interpretation. Man glaubt, das Geschehen zu verstehen, und dann verändert ein Detail die gesamte Stimmung: das Herzsymbol, die lange Nase der Puppe, die seltsame Kreatur, die wie ein unausgesprochenes Thema zwischen zwei Personen platziert ist.
Humor als Methode (nicht als Stimmung)
Auf der Künstlerseite beschreiben wir Göhlers Ansatz als spielerisch – er bringt die Betrachter gleichzeitig zum Lächeln und zum Nachdenken. Das ist keine Marketingfloskel, sondern ein guter Schlüssel zum Verständnis der Serie.
Die Verspieltheit ist kein Mangel an Ernsthaftigkeit. Sie ist eine Methode, Ernsthaftigkeit zu vermitteln, ohne zu belehren. In einer Zeit, in der „Aussagen“ sofort kategorisiert und umstritten werden, kann Humor dazu beitragen, ein offenes Bild zu bewahren. Er entwaffnet den Betrachter. Er lässt das Werk mit einer Stimme sprechen, die dem Alltag nahe ist, nicht darüber steht.
Göhlers Humor ist sanft. Die Gemälde verspotten ihre Figuren nicht. Selbst in absurden Szenen – Pinocchio, der zu einem Selfie gezwungen wird, ein Drache, der wie ein missverstandenes Haustier wirkt – zeugt die Darstellung der Figuren von Empathie. Es sind keine Karikaturen von „anderen Menschen“. Es sind Porträts von Situationen, die wir kennen: das Verlangen nach Anerkennung, das Ringen um Nähe, das Zurschaustellen von Selbstbewusstsein, das Verbergen von Verletzlichkeit.
MYTHOLOGIE FÜR MODERNE BEZIEHUNGEN
Eine der größten Stärken der aktuellen Serie ist, wie Göhler Mythen und Popkultur als emotionale Grundlage nutzt.
Märchenfiguren funktionieren, weil sie bekannt sind. Man braucht keine Erklärung. Pinocchio, die Meerjungfrau, der Drache – diese Figuren bringen bereits eine Geschichte mit. Göhler illustriert diese Geschichte nicht; er gibt ihr eine neue Bedeutung. Er platziert die Figuren in Szenen, deren emotionale Logik zeitgenössisch wirkt: Aufmerksamkeit als Währung, Zuneigung als Inszenierung, Nähe als etwas, das ausgehandelt und nicht selbstverständlich ist.
Eine Meerjungfrau ist in diesem Kontext nicht bloß eine Fantasiegestalt. Sie wird zur Metapher für Andersartigkeit in intimen Beziehungen – für das Schöne und das Fremde, für das, was sich nicht vollständig übersetzen lässt, für das, was exotisiert oder gefürchtet wird. Ein Drache ist nicht einfach nur ein Monster. Er ist die sichtbare Form dessen, was niemand benennen will: Eifersucht, Begierde, Scham, das „dritte Element“, das wie ein stummes Tier in Beziehungen lauern kann.
Und Pinocchio – vielleicht das treffendste Symbol überhaupt – wird zum Avatar des gegenwärtigen Selbst. Nicht zum „Lügner“, sondern zum „Kuratierten“. Die Nase steht nicht nur für Täuschung. Sie steht für Verzerrung: Was geschieht, wenn Identität für einen bestimmten Blick konstruiert wird?
DAS ATELIERS ALS KONTEXT: GROSSE GEMÄLDE, INTIME THEMEN
Die neben der Online-Auswahl enthaltenen Studioaufnahmen unterstreichen etwas Wichtiges: Diese Gemälde sind nicht nur flüchtige visuelle Hingucker. Sie existieren als physische Werke mit Größe und Präsenz.
Den Künstler neben einer großen Leinwand zu sehen – einer dieser leuchtenden, erzählerischen Szenen – verändert die Wahrnehmung. Was auf einem Bildschirm wie ein einfaches, fast „grafisches“ Bild wirkt, wird im realen Raum komplexer: Die Größe des Gemäldes verwandelt einen intimen Moment in etwas Architektonisches, etwas, vor dem man steht. Die Oberfläche wird Teil des Erlebnisses. Die Klarheit wirkt auf die beste Art konfrontativ.
Das ist wichtig, insbesondere online. Wir sind es gewohnt, Gemälde nur als Miniaturansichten zu betrachten. Göhlers Werk spielt insbesondere mit dieser Gewohnheit: Es nutzt die Unmittelbarkeit digitaler Bilder, belohnt aber gleichzeitig das verweilende Betrachten, das Bildschirme normalerweise nicht fördern.
Warum diese Serie gerade jetzt zu Artclub passt
ARTCLUB schafft einen Raum, in dem zeitgenössische Kunst nicht durch abgrenzende Sprache eingeschränkt wird. Göhlers Werk passt zu dieser Mission, nicht weil es „einfach“ ist, sondern weil es ehrlich darstellt, wie die Menschen im Jahr 2025 tatsächlich sehen und fühlen.
Diese Gemälde leugnen nicht die Existenz der digitalen Welt. Sie behaupten nicht, Liebe sei rein, Aufmerksamkeit harmlos oder Mythen etwas, das wir überwinden. Vielmehr zeigen sie, wie all diese Dinge aufeinanderprallen: Märchenfiguren in modernen Ritualen, Zärtlichkeit verstrickt mit Ablenkung, Humor neben Melancholie.
Wenn Sie nur eine Sache aus dieser Serie mitnehmen, dann diese: Göhler malt die emotionale Realität hinter der Bildökonomie. Er malt die stillen Momente, in denen Beziehungen ausgehandelt werden – Momente, in denen jemand wegschaut, in denen jemand festhält, in denen jemand versucht, das Leben in ein Bild zu verwandeln und hofft, dass das Bild ihn auch liebt.